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AUSLEGUNGSSACHEDer Atem Gottes schafft Frieden – Jesaja 11,1-10
»Wo immer ihr nun unterwegs seid – seid euch darüber im Klaren: Es wird so sein, dass ich euch wie Lämmer in Mitten von Wölfen schicke!«, sagt Jesus in Lukas 10,3 und stellt damit m. E. eine Verbindung zu der Friedensvision in Jesaja 11 her. Dieser Zusammenhang war meine Motivation, diesen Abschnitt zu übersetzen. Mein Hauptaugenmerk lag darauf, das Prophetenwort auf der Sachebene ins Deutsche hinüberzutragen, damit die Fabel ihre Wirkung entfalten kann.
Der Atem Gottes schafft FriedenEine Übertragung von Jesaja 11,1-10
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- Aus dem Stumpf Isais1 1 Isai (sprich: Isa’i; a und i werden getrennt gesprochen) ist die traditionelle deutsche Version des Namens, den der Vater von David trug. Auf Hebräisch klingt sein Name etwas anders: Jischáj. Sachlich geht es um die Dynastie der Davididen. ausblenden wird ein frischer Austrieb wachsen, ein neuer Zweig aus seinen Wurzeln, der Frucht tragen wird.
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- Auf diesem Austrieb wird der Atem2 2 Hebräisch ›ruach‹. Ich bitte darum, das hier als lebendige Metapher zu hören. ›ruach‹ bedeutet Atem, Hauch, Wind. ausblenden des ewigen Gottes ruhen: ein Atem der Weisheit und des Verstehens, ein Atem, der neue Perspektiven denkbar werden lässt und zum Handeln antreibt, ein Atem tiefen Begreifens und der Furcht3 3 Stichwort ›Gottesfurcht‹: Es geht um tiefe Achtung und Respekt vor dem Willen Gottes, seiner Erhabenheit, Souveränität und Macht. ausblenden des ewigen Gottes.
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- Und weil er, dieser Zweig, selbst die Furcht des ewigen Gottes4 4 Eigentlich: JHWH, der Name Gottes. Es ist eine jüdische Übersetzungstradition, den Namen mit ›der Ewige‹ zu übertragen. ausblenden ein- und ausatmet, also ständig ihren Duft wahrnimmt, richtet er nicht nach dem, was seine Augen sehen, noch entscheidet er, was recht ist, nach dem, was seine Ohren hören!
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- Er verschafft den Armen mit Zugewandtheit und Solidarität Recht. Er entscheidet mit Klarheit im Sinne der Benachteiligten des Landes. Mit der Unnachgiebigkeit seines Mundes und dem bloßen Hauch seiner Lippen transformiert er das Land, wobei er den Bösen schließlich ersterben lassen wird.
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- Solidarität ist die Antriebsfeder seines Handelns und Verlässlichkeit dabei seine Grundhaltung.
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- Dann wird der Wolf Zuflucht beim Lamm suchen, während der Leopard sich friedlich mit dem Zicklein zur Ruhe legen wird und Kalb und Junglöwe gemeinsam als Freunde gut essen werden – ein kleiner Junge begleitet sie dabei.
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- Kuh und Bärin werden sich eine Weide teilen, ihre Kinder halten zusammen Mittagsschlaf und der Löwe wird, wie das Rind, Stroh fressen.
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- Ein Baby spielt unbeschwert am Loch einer Kobra, ein Krabbler steckt ohne Gefahr seine Hand in den Eingang der Höhle einer Hornotter.
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- So wird schließlich niemand mehr Unheil über einen anderen bringen und keiner mehr Verderben anrichten auf dem gesamten Berg meiner Heiligkeit – weil Wissen um den ewigen Gott5 5 Wie in Vers 3. ausblenden die Erde erfüllt, wie Wasser den Meeresboden bedeckt.
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- An jenem Tag wird es geschehen: Die »Wurzel6 6 Wurzel heißt auf Hebräisch ›schóresch‹ und ist, anders als im Deutschen, maskulinum. Das heißt, dass im Original alle Bezüge zu ›schóresch‹ ebenfalls maskulinum sind, während sie auf Deutsch konsequent femininum sein müssen. Sonst könnte man sie ja nicht auf ›die Wurzel‹ beziehen. ausblenden Isais« – sie wird als das Wappen der gottesfürchtigen Völker stehen. Nach ihr werden die Völker der Welt suchen. Und allein »die Ruhe der Wurzel« wird noch von Bedeutung sein.7 7 Obwohl der Satz syntaktisch sehr klar ist, bleibt der letzte Viertelvers etwas dunkel, weil nicht sofort offensichtlich ist, was ›kabód‹ in diesem Zusammenhang heißen soll. Doch der Reihe nach: Die ›Wurzel Isais‹ vom Anfang des Textes wird aufgenommen und alle Aussagen in V. 10 stehen in Bezug zu ihr. Sie wird zum Wappen, also zum Zeichen der Identität bzw. Zugehörigkeit für die ›‹ammim‹. ›‹am‹ bedeutet Volk und ist meistens Selbstbezeichnung für Israel (das griechische Pendant ist ›láos‹). Deshalb habe ich das als ›gottesfürchtige Völker‹ wiedergeben. Die ›gojim‹ dagegen – bei mir hier ›Völker der Welt‹ – suchen nach der ›Wurzel Isais‹. ›gojim‹ ist die Bezeichnung für alle anderen Völker außer Israel – meistens (griechisch: éthnos). Soweit lässt das an die neutestamentlich-jesuanische Frage denken: Wer ist eigentlich Volk Gottes? (Antwort: Die den Willen meines Vaters tun!) Nun zu ›kabód‹. Hier scheint es mir ratsam, zur Grundbedeutung zurückzugehen. ›kabód‹ bedeutet zunächst, dass etwas schwer, gewichtig und damit bedeutsam ist. Erst in zweiter Linie Ehre, Ruhm und Herrlichkeit. Wendet man das an, kommt man zunächst zu der technischen Übersetzung: »… und ihre Ruhe wird gewichtig sein.« Somit ist die ›Ruhe der Wurzel‹ das entscheidende Merkmal des Miteinanders, das diese erwirkt hat. Die Formulierung lässt kaum Raum dafür, dass es, wenn die Ruhe wichtig ist, noch etwas anderes geben kann, was auch so wichtig ist. Deshalb die Zuspitzung: »Und allein »die Ruhe der Wurzel« wird noch von Bedeutung sein.« ausblenden
Übertragung: Thilo Maußer
Kurze Erläuterung
Als Vorgeschichte dieses Bildes vom Baumstumpf muss man wohl Folgendes mitdenken: Der ›Baum Isais‹ wurde abgehauen und es blieb nur noch ein Stumpf übrig. Isai war der Vater König Davids, so dass mit dem Baum das Königtum Davids im Sinne des Fortbestands der Dynastie gemeint ist, die auf ihn zurückgeht. Aber was ist dann aus dem Versprechen Gottes an David und seine Nachkommen geworden, dass sein Königtum für alle Zeit bestehen würde? 8 8 Vgl. 2 Sam 7,8-16. ausblenden
Historisch betrachtet wurde der ›Baum Isais‹ im 6. Jh. v. Chr. gefällt, als die Babylonier die judäische Führungsschicht deportierten und schließlich Jerusalem und den Tempel plünderten und zerstörten.9 9 Was nicht heißt, dass es keine Nachkommen gegeben hätte. Die gab es schon, nur sie waren keine Könige in Jerusalem mehr. ausblenden Doch zur Zeit Jesu war die Frage, was mit dem Thron Davids jetzt wird, emotional ebenfalls sehr drängend und mögliche Antworten weitaus vielfältiger, so dass dieser Abschnitt aus dem Propheten Jesaja viel Resonanz gehabt haben dürfte. Wie mag Jesus selbst diesen Abschnitt verstanden haben?
Deutung der ›Ruhe‹ der ›Wurzel Isais‹
Der königliche Nachfahre Davids, der äußerlich nur noch die Wurzel eines abgeschlagenen und vermeintlich toten Baums zu sein scheint, erwacht zu neuem Leben, lässt wahre Gerechtigkeit Wirklichkeit werden, so dass alte Feinde neue Lebensgemeinschaften bilden, die das alte Schema von Jäger und Gejagten überwinden und hinter sich lassen. Mit diesem neuen Miteinander kommt Gotteserkenntnis, weil der Wille Gottes endlich für die Welt erfüllt wurde. Ich verstehe diese Ruhe als die Frucht dieses innen und außenpolitischen Friedens, der nicht nur Gott und dessen Willen für die Schöpfung erkennen lässt, sondern darüber hinaus Gemeinschaft mit ihm herstellt – ein Schabbat des Schöpfers mit seiner gesamten Schöpfung.
Zum Zusammenhang mit Lukas 10
Jesus hat, wenn er an diesen Text gedacht hat, die Bewegungsrichtung verändert: In Jes 11,6 sucht der ›Wolf‹ danach, Mitbewohner beim ›Lamm‹ zu werden, doch in Lk 10,3 schickt Jesus die Lämmer zu den Wölfen, um bei ihnen Aufnahme zu finden und gemeinsam zu arbeiten und zu leben.
Ich verstehe das so, dass die ›Lämmer‹ darauf vertrauen können | dürfen | müssen, dass Gott diesen Frieden sich einfach ereignen lässt, wenn sie den ›Wölfen‹ begegnen und mit ihnen zusammen die Ernte einbringen und das Leben teilen.
Diese Änderung der Bewegungsrichtung ist übrigens das, was das Kunstwort »missional« neu ins Bewusstsein rufen möchte.
Links zu weiterführenden Beiträgen
Zur Übersetzung von Lukas 10,1-12
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