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[ Post vom 23. Juni 2022 – 9.41 Uhr ]

RUBRIK
AUSLEGUNGSSACHEDie Aspekte im Griechischen

Man kann es als eine Art Kunstprojekt auffassen: Ich habe bei der Übersetzung von Johannes 19,38-20,18 konsequent nach Möglichkeiten gesucht, den verschiedenen Aspekten der griechischen Verbformen gerecht zu werden. Dafür gibt es einen Anlass. Denn die Rezeptionsgeschichte dieses Textes transportiert einen unglaublichen Übersetzungsfehler, der mit der Missachtung dieses Wesenszuges des Griechischen zu tun hat (Joh 20,17). Im Anschluss an die Übersetzung wird das erläutert.

Die Aspekte im Griechischenund die Geschichte eines unglaublichen Übersetzungsfehlers

Zunächst lade ich aber erst einmal dazu ein, diese schöne Geschichte zu lesen und so an ihren außergewöhnlichen Ereignissen Anteil zu nehmen – Johannes 19,38-20,18:

Wie Jesus nach seinem Tod am Kreuz bestattet wurde

38 Joseph von Arimathäa war aus Furcht vor den Juden11  Es gibt leider keine einfache Antwort auf die Frage, wer oder was mit ›den Juden‹ im Johannes-Evangelium gemeint ist. Hier ist wichtig, dass diese Ausdrucksweise (leider) eine Eigenart des Evangeliums selbst ist, die für uns heute in Hinblick die Geschichte der Judenverfolgung sehr belastend ist. Auch im Evangelium wird eine Polarisierung dadurch zu Sprache gebracht, die aber in jedem Fall eine ganz andere Konfliktlinie hatte, als wenn man heute in Mitteleuropa so reden würde. Für das Johannes-Evangelium kann die Konfliktlinie nur unter Vorbehalt rekonstruiert werden, weil das Ergebnis von vielen Vorentscheidungen abhängt. So wird man zu einem anderen Ergebnis kommen, wenn man davon ausgeht (das ist übrigens auch meine Position), dass das Johannes-Evangelium von jüdischen Menschen geschrieben worden ist, als wenn man von einer nicht-jüdischen Autorenschaft ausgeht (Udo Schnelle z.B.). ausblenden ein heimlicher Jünger Jesu geblieben. Nachdem Jesus am Kreuz gestorben war, fragte er Pilatus, ob er den Leichnam Jesu abnehmen dürfe. Pilatus gestattete es. So kümmerte sich Josef um alles und versorgte den Leichnam Jesu. 39 Auch Nikodemus kam zur Unterstützung – er war es ja, der damals bei seiner ersten Begegnung nachts zu Jesus gekommen war. Nikodemus sorgte für Salböle in einer Menge, die der Bestattung eines großen Königs würdig war, eine Mischung aus Myrrhe und Aloe. 40 Sie versorgten nun gemeinsam den Leichnam Jesu, verwendeten die Duftöle und hüllten ihn in Leinentücher ein, wie es für Juden der Sitte für eine Beisetzung entsprach. 41 In der Nähe des Ortes, wo er gekreuzigt wurde, war ein Garten. Dort gab es eine neue Grabhöhle, in der noch nie jemand bestattet worden war. 42 In diese Gruft legten sie Jesus schließlich, denn der jüdische Vorbereitungstag für das Passa ging mit Sonnenuntergang zu Ende, so dass die Zeit drängte; und die Grabhöhle bot sich an, weil sie nicht weit weg war.

Am übernächsten Morgen

1 Etwa sechsunddreißig Stunden später war Maria aus Magdala früh morgens zum Grab unterwegs. Es war noch dunkel. Sie entdeckte, dass der Stein, der eigentlich die Grabhöhle verschließen sollte, wieder zur Seite gerollt worden war. 2 Sofort kehrte sie wieder um und machte sich mit dieser Information auf den Weg zu Simon Petrus und dem anderen Jünger, den Jesus liebte. Mehrfach erklärte sie ihnen ihre Schlussfolgerung: »Man hat den Herrn wieder aus dem Grab genommen und wir wissen nicht, wo man ihn stattdessen hinge-bracht hat.« 3 Endlich entschloss sich Petrus, selbst nachzusehen – der andere Jünger auch; und gemeinsam machten sie sich auf den Weg zum Grab. 4 Beide legten die Strecke rennend zurück. Dabei überholte der andere Jünger Petrus, weil er schneller war, und erreichte als erster das Grab. 5 Er beugte sich in die Grabhöhle vor und nahm die Szene in sich auf: Die Leinentücher lagen einfach rum. Er ging aber nicht hinein. 6 Inzwischen kam auch Simon Petrus an, der ihm ja folgte. Petrus dagegen ging in die Grabhöhle hinein. Auch er bemerkte, wie die Leinen herumlagen; 7 das Stück Stoff aber, dass um den Kopf herum war, lag nicht bei den Leinentüchern. Stattdessen befand es sich ordentlich zusammengelegt an einem Ort für sich. 8 Dann ging endlich auch der andere Jünger, der ja eigentlich zuerst angekommen war, in das Grab hinein und er erfasste, was er sah, und begann zu glauben22  Ich fasse das als sog. ›ingressiven Aorist‹ auf. Das bedeutet, das auf den Anfangspunkt einer Handlung Bezug genommen wird. Der Zusammenhang ›zwingt‹ einen förmlich dazu, weil sonst rätselhaft bleibt, was Vers 9 eigentlich begründen will. So ergibt aber alles einen Sinn. ausblenden.

9 In dieser Situation verstanden sie die Schrift33  Was genau hier mit ›der Schrift‹ gemeint ist, kann nicht präzise gesagt werde, weil das Johannes-Evangelium ein einer Zeit stammt, in der es auch in den verschiedenen Ausprägungen des Judentums noch keinen festen Kanon gab. Alle Juden und die Samaritaner waren sich einig, dass der Thora (5 Bücher Mose) die größte Autorität zukommt. Bei den Propheten fängt es dann schon an zu wackeln: Die Pharisäer und die jüdischen Menschen, die die Texte des Neuen Testaments verfasst haben, betrachteten auch die Geschichtsbücher und die Propheten als ›heilige Schriften‹ und auf alle Fälle auch das Buch der Psalmen. Die Gruppe der Sadduzäer dagegen sahen ausschließlich in der Thora die verbindliche Weisung Gottes. Die Textsammlung der Septuaginta (der antiken griechischen Übersetzung der Hebräischen Bibel) enthält Schriften, die über den Umfang des hebräischen Textes hinausgehen, wie wir ihn heute überliefert finden und verrät dadurch mittelbar, welche Schriften generell ›beliebt‹ waren. Bleibt die Frage, welche Stellen für solch eine Deutung überhaupt in Frage kämen. Denn eine eindeutige Stelle gibt es leider nicht – weder in der Hebräischen Bibel noch in der Septuaginta. Es scheint wohl der Ertrag einer schriftgelehrten Auslegung bzw. Argumentation gewesen zu sein, die aus mehreren Stellen schlussfolgerte, dass Jesus als Messias und Sohn Gottes auferweckt werden musste. Ich vermute, dass die Gottesknecht-Lieder bei Jesaja (Jesaja ist ein Buch, das zu den Propheten zählt) dabei zumindest eine Rolle gespielt haben werden. In Jesaja 42,6 und 49,8 findet sich die Aussage, dass Gott über den Knecht wacht und ihn bewahrt. In Jesaja 52,13 wird schließlich gesagt, dass der Knecht über das gewohnte Maß hinaus erhöht und verherrlicht werden wird. Besonders die Formulierung der Septuaginta macht den Zusammenhang zum Johannes-Evangelium nachvollziehbar (vgl. a. Jes 49,3 LXX). In den Psalmen findet sich weiteres Material. Ich möchte hier auf die Argumentation in Apg 2,24-32 hinweisen, die Ps 16,8-11 (LXX Ps 15,8-11) zitiert und auf die Auferstehung Jesu hin deutet. (Siehe in etwas anderer Hinsicht auch Anmerkung 4.) ausblenden noch nicht, dass es nach ihr so sein musste, dass er schließlich von den Toten auferstehen würde.

10 Schließlich verließen die Jünger den Garten und kehrten in ihre Unterkunft zurück. 11 Maria aber blieb. Sie suchte sich einen Platz in der Nähe des Grabes, um zu weinen und zu trauern. Während sie weinte, sah sie nach einiger Zeit zufällig wieder in die Gruft hinein 12 und beobachtete, wie da zwei Engel ganz in Weiß saßen. Einer saß am Kopf- und der andere am Fußende – bezogen darauf, wie der Leichnam Jesu dort gelegen hatte. 13 Die Engel sprachen mit ihr, »Frau, warum weinst du?« Maria erklärte ihnen: »Weil sie meinen Herrn weggenommen haben und ich nicht weiß, wo sie ihn hingebracht haben.« 14 Kaum hatte sie zu Ende gesprochen, drehte sie sich auch schon von den Engeln weg und sah Jesus, wie er ganz ruhig vor ihr stand. Allerdings war es ihr nicht klar, dass es Jesus war. 15 Jesus unterhielt sich mit ihr: »Frau, warum weinst du? Wen suchst du?« Weil sie den Eindruck hatte, dass es sich bei ihm um den Gärtner handelte, ging sie darauf ein: »Herr Gärtner, wenn du ihn verlegt hast, sag mir wohin! Ich werde ihn dann holen.« 16 Jesus sprach sie erneut an: »Maria!« In dem Moment gelang es ihr, sich von ihrer Trauer und ihrem Schmerz abzuwenden und immer wieder sagte sie zu ihm auf Hebräisch: Rabbuni, Rabbuni, Rabbuni! – das bedeutet: »Lehrer!« 17 Irgendwann sagte Jesus zu ihr schließlich: »Halte mich jetzt nicht mehr länger fest!44  Ebenfalls richtig machen es die Einheitsübersetzung von 2016 und die BasisBibel (beide: »Halte mich nicht fest…«). Die traditionelle – aber eben falsche Übersetzung – lautet: »Berühre mich nicht...«. ausblenden Denn ich bin noch nicht beim Vater angekommen. Suche meine Brüder auf und sage ihnen dies: »Ich bin auf dem Weg zu meinem Vater und zu eurem Vater, zu meinem Gott und zu eurem Gott.« 18 Als Maria aus Magdala die Jünger traf, erzählte sie es immer wieder, »Ich habe den Herrn gesehen und er steht mir noch vor Augen.«55  Sachlich darf man vielleicht an Psalm 16,8 denken. Besonders in seiner Septuaginta-Version (LXX Ps 15,8; zitiert in Apg 2,25): Allezeit sah ich den Herrn vor mir… ausblenden Und sie wiederholte ihnen auch, was er ihr aufgetragen hatte.

Der unglaubliche Übersetzungsfehler in Johannes 20,17

Im Griechischen Text sagt Jesus in Joh 20,17 nicht »Berühre mich nicht!« im Sinne von »Fass mich erst gar nicht an!«, wie es in vielen Bibelübersetzungen aktuell noch zu lesen ist. Hätte er auf Griechisch so etwas ausdrücken wollen, hätte er den Imperativ Aorist gebrauchen müssen. Der Aorist ist ein indogermanischer Aspekt- bzw. Tempus-Stamm, den es aber weder im Lateinischen noch im Deutschen gibt. Im Griechischen – übrigens auch im Neugriechischen – spielt er eine wichtige Rolle und drückt dort das Punktuelle und Einmalige einer Handlung im Gegensatz zu Dauer oder Wiederholung aus.

Doch in Joh 20,17 verwendet Jesus den Imperativ Präsens und verbietet deshalb nicht die Berührung an sich, sondern fordert Maria dazu auf, ihn nach einiger Zeit schließlich doch loszulassen: »Halte mich nicht länger fest…«

Zwingend wird das, weil dem griechischen Präsens der Aspekt der Dauer und der Wiederholung zu eigen ist, und in dieser Hinsicht eben das Gegenstück zum Punktuellen des Aorists darstellt. So bezieht sich Jesus auf den Umstand, dass Maria ihn bereits eine Weile berührt, betastet, umarmt. Erst nachdem er das für eine Weile zugelassen hat, fordert er sie auf, ihn schließlich doch loszulassen – weil er noch nicht am Ziel ist und auch Maria noch nicht da angekommen ist, was der Glaube an den Auferstandenen für sie alles bedeuten wird. Auch sie selbst muss um Jesu willen noch weiter und diesen Moment vorübergehen lassen.

Dass Maria die Berührung sucht, ist ja ganz leicht zu verstehen: Mit ihren Händen will sie sich vergewissern, dass wahr ist, was ihre Augen sehen. Ein Teil der Pointe dieser Geschichte besteht aber gerade darin, dass Jesus diese Berührung zugelassen hat, sie aber nicht ewig dauern kann.

Um zu belegen, dass das keine Spinnerei ist, verweise ich auf das Standartlexikon für den deutschsprachigen Raum, wenn es um neutestamentliches Griechisch geht: Griechisch-deutsches Wörterbuch zu Schriften des Neuen Testaments und der frühchristlichen Literatur, Walter Bauer, hg. v. Kurt Aland und Barbara Aland, Berlin/New York, 6. Auflage 1988. Macht man sich nämlich die Mühe und schlägt das Verb ἅπτω (hapto; vgl. bspw. Haptik) nach, findet man dort in Spalte 206 ganz unten folgenden Eintrag: »… fasse mich nicht länger an! lasse mich los! J 20 17 …«

Wie es zu dem Übersetzungsfehler gekommen ist, erkläre ich gleich. Zuvor möchte ich aber sehr kurz zeigen, was Aspekte im Altgriechischen eigentlich sind und wie sie funktionieren. Das möchte ich gerne tun, weil es eine konkretere Idee davon vermitteln kann, was ich mit dieser Übersetzung hier eigentlich versucht habe. Denen, die Griechisch lernen, mag es als Vorlage zum besseren Verständnis der Aspekte dienen – und als Ermutigung dafür, dass es gut und hilfreich ist, das zu lernen, um mündig biblischen Texten im Original begegnen zu können.

Die Aspekte im Griechischen »in a nutshell«

Im Deutschen und im Lateinischen gibt es – wie bereits gesagt – keine Aspekte. Die Verformen haben eine Zeitstufe und das war es. Deshalb müssen Menschen, die sonst nur Latein oder Deutsch sprechen, etwas für sie vollkommen Neues über Sprache lernen, wenn sie sich mit Griechisch befassen. Und das ist wohl das eigentliche Problem.

Im Griechischen gibt es drei Aspektsysteme:

1. Das lineare System – repräsentiert wird es durch die Formen des Präsens‘ und Imperfekts. Es gibt den Verben den Aspekt der Dauer bzw. der Wiederholung.66  Das Imperfekt gibt deshalb die Wiederholung bzw. Dauer in der Vergangenheit wieder. ausblenden Man kann sich das so vorstellen, dass unsere Wahrnehmung der Gegenwart sich ja eben nicht wie die Aneinanderreihung von Augenblicken anfühlt, sondern wie ein Bewusstseinsstrom. Oft sind einzelne Punkte aus dem Bewusstseinsfluss erst im Nachhinein als Blick in die Vergangenheit möglich. Beispiel: Wenn man Tischtennis spielt, hört man das wechselnde Aufschlagen des Balls auf Kelle und Tisch als Rhythmus. Als Einzelgeräusche verdienen sie während des Matches keine Aufmerksamkeit – weder von den Spielern noch vom Publikum. Überhaupt erst im Nachhinein hat man – beispielsweise zu Analysezwecken – genügend Zeit, sich in der Zeitlupe auf den einzelnen Augenblick zu befassen (mit dem Punktuellen eben).

2. Das punktuelle System, das durch den Aorist ausgedrückt wird. Punktuell kann heißen, dass es eine Einzelhandlung in der Vergangenheit war, die neben anderen erzählt wird, in deren Zusammenhang sie sich ereignet hat. Das macht bereits anschaulich, warum sich der Aorist als Erzähltempus der Vergangenheit anbietet. Denn wenn wir uns auf Ereignisse der Vergangenheit beziehen, fassen wir oft Dinge in einem Punkt zusammen, die immer zumindest etwas, manchmal aber auch sehr viel Zeit in Anspruch nahmen (Beispiel: Dann war dreißig Jahre lang Krieg.77  So etwas wird in der Grammatik des Griechischen ›komplexiver Aorist‹ genannt. ausblenden). ›Punktuell‹ kann aber auch heißen, dass jetzt konkret etwas getan werden soll und nicht unbestimmt irgendwann einmal (Imperativ, Jussiv, Optativ). Der Gebetsruf »Kyrie eleison« (Griechisch: κύριε ἐλέησον – »Herr, erbarme dich!«; also eigentlich: eléēson) ist ein Beispiel dafür. Der Herr soll nicht generell immer mal wieder sein Erbarmen zeigen, sondern jetzt konkret zu diesem Anliegen voller Not.88  Durch dieses Beispiel wird anschaulich, warum für den Befehl, Jesus erst gar nicht zu berühren, der Aorist notwendig gewesen wäre. Und ja, ›eleison‹ ist Imperativ Aorist. ausblenden Schließlich, punktuell kann ebenfalls bedeuten, dass der Beginn einer Handlung betont wird – in der Geschichte findet sich in Joh 20,8 ein Beispiel dafür: »… und begann zu glauben.«99  Das würde man dann ingressiven Aorist nennen. Schließlich gibt es dann noch den sogenannten komplexiven Aorist (kommt in dieser Geschichte nicht vor). Das bedeutet, dass eine komplexe Handlung, die eigentlich eine Zeitdauer in Anspruch genommen hat, in einem Punkt verdichtet bzw. zusammengefasst wird. Siehe auch Anmerkung 7. ausblenden

3. Schließlich gibt es das resultative System, das dem Perfekt und Plusquamperfekt zu eigen ist. Dabei geht es darum, dass eine Handlung in der Vergangenheit zu einem Ergebnis (Resultat) in der Gegenwart geführt hat.1010  Das ist hier jetzt aus der Perspektive des Perfekts formuliert, das Ergebnis beim Plusquamperfekt hat dann entsprechend Bedeutung für die berichtete Vergangenheit. ausblenden Deshalb ist es im Deutschen angemessen, das griechisches Perfekt möglichst als Präsens zu übersetzen (Klassisches Beispiel: Ich wurde in der Vergangenheit erzogen. Resultat: Jetzt bin ich gebildet.). In der Geschichte findet sich in Joh 20,18 ein Beispiel dafür: »Ich habe den Herrn gesehen und er steht mir noch vor Augen.« Eine Handlung in der Vergangenheit (Ich habe den Herrn gesehen…) führt zu einem Resultat in der hier erzählten Gegenwart (… und er steht mir noch vor Augen.).1111  Das Resultat ist hier eigentlich Teil der Interpretation, die bei der Rezeption der Geschichte geschehen muss, damit sie im Wesen verstanden wird. Rezipierende müssen sich die Frage stellen: Was kann für Maria das Ergebnis davon sein, dass sie Jesus gesehen hat? Glaube, Zuversicht, Erfahrung der Gegenwart Jesu und die Gemeinschaft mit ihm oder einfach das Wissen, dass er lebt? ausblenden

Für das griechische Präsens und den Aorist gilt, dass im Indikativ eine Zeitstufe zum Aspekt hinzutritt. Auch wenn das Präsens im Indikativ die Zeitstufe der Gegenwart ausdrückt, verliert es seinen Aspekt der Dauer bzw. der Wiederholung dabei aber nicht – auch wenn man zugeben muss, dass sich Dauer und Wiederholung in der Schilderung des gegenwärtigen Prozesses nahezu auflösen können.

Allen anderen Formen, die also nicht Indikativ sind (bspw. im Konjunktiv, Imperativ, Optativ usw. oder bei den Partizipien), kommt keinerlei Zeitstufe zu. Stattdessen muss besonders sorgfältig auf ihren Aspekt geachtet werden, weil davon die intendierte Bedeutung abhängt1212  Um es noch einmal in aller Deutlichkeit zu sagen: Bei Präsens und Aorist gibt es ausschließlich im Indikativ eine Zeitstufe. Bei allen anderen Präsens- und Aorist-Formen spielt ausschließlich der Aspekt die entscheidende Rolle. Bedenke: Imperative sind keine Indikative! Und: Partizipien im Aorist sind nicht per se vorzeitig (wie das beim lateinischen Partizip Perfekt Passiv der Fall ist) – auch wenn die Elberfelder mir diesen Fehler in ihrer Übersetzung konsequent durchzuhalten scheint. Was natürlich auch damit zusammenhängt, dass das Konzept der »wörtlichen Übersetzung« an den Aspekten scheitern muss. ausblenden – wie das Missverständnis von Joh 20,17 ja eindrücklich zeigt.

Eine Bemerkung am Rande

Wenn das Johannes-Evangelium die Vorliebe hat, in seiner Darstellung der Handlung gerne mal ins Präsens zu springen, hat das sicher auch theologische Gründe. Aber bevor man sich sinnvoll damit beschäftigen kann, muss man das erst einmal philologisch auf die Reihe kriegen. Und da geht darum, den Aspekt der Dauer angemessen in den Blick zu behalten. In dieser Geschichte hier kommt der Wechsel in Präsens auch vor. Ich habe mich in meiner Übersetzung gemüht, dem Aspekt der Dauer in diesen Passagen einen Ausdruck zu verleihen, bleibe im Deutschen aber in der Vergangenheit.

Meine Vermutung zu der theologischen Dimension geht in die Richtung, dass Johannes ins Präsens wechselt, wenn sich die Gegenwart Jesus in der Erzählung in einer Weise anbahnt und sich schließlich ereignet, wie sie das auch heute noch tun kann, wenn er uns als der Auferstandene gegenwärtig wird. Das Präsens könnte dann ein Marker dafür sein, was im Zusammenhang des Johannes-Evangelium als Horizontverschmelzung bezeichnet wurde.1313  Womit man sich einen Begriff aus der Hermeneutik Hans Georg Gadamers geliehen hat, die aber selbst andere Horizonte meint, die miteinander verschmelzen. ausblenden Der Horizont des irdischen Jesus wird mit dem des Auferstandenen verschmolzen und damit auch mit unserer Perspektive als Christen von heute auf ihn als Person der Geschichte und als dem Herrn, der uns heute als der Auferstandene begegnet und uns glauben lässt, ohne dass wir »gesehen hätten«.1414  Vgl. Joh 20,29: Jesus erklärte ihm: »Weil du mich gesehen und wiedererkannt hast (Perfekt im griechischen Text), bist du zum Glauben gekommen (ebenfalls Perfekt). Wohl denen, die dennoch Glauben ergreifen (Partizip Aorist – ingressiv), obwohl sich ihnen nicht die Gelegenheit bot, selbst zu sehen (Partizip Aorist; macht im Deutschen nur als Vergangenheit Sinn).« Dieses Erklärungsmodel wird nicht auf alle Stellen passen, in denen ins Präsens gewechselt wird. Daneben wird es wohl einfach auch die Stellen geben, wo das als Stilmittel eingesetzt wird, wie es auch in anderen griechischen Texten geschieht. ausblenden Es ist aber ein Extra-Thema, das in Bezug auf diese Geschichte zu interpretieren. Schließlich muss man herausfinden, was das heißt, wenn der der Auferstanden bereits auftritt, aber noch weitermuss.

Wie es zu dem Übersetzungsfehler kam und warum er so eine gewaltige Wirkungsgeschichte nach sich zog

Die Antwort ist einfach: Die lateinische Übersetzung dieser Stelle war falsch, aber wurde dem Abendland vertraut: »noli me tangere« heißt tatsächlich »Berühre mich nicht!«. Es gibt etliche Gemälde (z.B. aus der Renaissance), die die lateinische Formulierung als Titel tragen und einen Christus zeigen, der Maria auf Distanz hält.

Mit den Jahrhunderten wurde die Vorstellung vertraut, die die lateinische Version der Evangelien transportierte und die Kultur nahm sie in sich auf. Dann kam noch die Herausforderung dazu, mit einer für lateinisch und germanisch denkende Gehirne vollkommen fremde Denkweise konfrontiert zu sein. Grundsätzlich zeigt das, wie nötig die Idee der Reformation war, biblische Texte wieder aus ihren Grundsprachen Hebräisch, Aramäisch und Griechisch zu übersetzen. Doch der Übersetzungsfehler in Joh 20,17 zeigt, wie zementiert die Vorstellungen der ›lateinischen Phase‹ zuweilen bis heute sind, obwohl es im Wörterbuch schon richtig steht.

Mir kommt es so vor, als ob aus einem SW-Film ein Farbfilm in 3D werden könnte, wenn wir im Neuen Testament konsequent auf die Verwendung der Aspekt achten würden. Das ist ein sprachliches Bild, das mir als Foto-Mensch eigentlich nicht gefällt, weil ich zu Schwarz-Weiß ein sehr positives Verhältnis habe – aber es beschreibt doch ganz gut, was ich empfinde. Nicht nur diese Ostergeschichte wird dadurch lebendiger, dynamischer und farbiger. Es gibt auch noch einige andere Überraschungen zu entdecken. Dazu möchte ich mir meiner Übersetzung von der johanneischen Ostergeschichte eine Tür öffnen. Mein ›Kunstprojekt‹ möchte anschaulich machen, wie das bedeuten kann.

Thilo Maußer

Weiterführende Links

Ein Beispiel für Präsens und Futur im Griechischen: Matthäus 7,7-8

der übersetzte Abschnitt nach der neuen Einheitsübersetzung (2016)

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